H.P. Lovecraft´s Dreamlands
Rezension von Tobias Deterding

Die sogenannten Traumland-Geschichten nehmen eine Sonderstellung im Werk H.P. Lovecrafts ein. Obwohl sie sich deutlich von seinen übrigen Horror-Storys unterscheiden, sind sie doch in Sprache und Thematik für diesen Autor ebenso typisch und unverwechselbar. Hier wird die Anlehnung an sein Vorbild Lord Dunsany am deutlichsten, ebenso wie die Affinität zur altgriechischen und römischen Antike und zu den Märchen aus tausendundeiner Nacht. Der Erzählstil, schwankend zwischen naiv-sentimental und bizarr-surrealistisch, vermittelt gekonnt die märchenhafte Atmosphäre. Heute würde man diese Art von Literatur vielleicht als Fantasy bezeichnen. Einige Epigonen, allen voran Brian Lumley, setzten die Traumland-Erzählungen fort, allerdings wohl nicht als direkte Imitation des Vorbilds, sondern in ihrem eigenen Stil. Ich selbst bin nur mit Lovecrafts Texten vertraut, kann mir diesbezüglich also kein Urteil erlauben.

Die erste Auflage eines entsprechenden Quellenbandes zu Call of Cthulhu brachte Chaosium bereits 1986 auf den Markt, nur 5 Jahre nach der Erstauflage des Rollenspiels. Die zum größten Teil von Sandy Petersen verfasste Publikation beruhte damals fast ausschließlich auf Lovecrafts Erzählungen. Mittlerweile liegt das Sourcebook in der 5. Auflage vor und ist, wie nicht anders zu erwarten, im Umfang um einiges angewachsen. Auch wenn zu den ursprünglichen Kapiteln gar nicht mal so viele neue hinzukamen, sind die alten dafür stark erweitert worden. Chris Williams ist im Wesentlichen für diese Ergänzungen verantwortlich, indem er Aspekte aus dem Werk der Lovecraft-Nachfolger und auch Material aus diversen Chaosium-Publikationen integrierte.

Der optische Eindruck ist im Großen und Ganzen positiv, die Qualität liegt etwas über dem altbekannten Chaosium-Standard. Der Band ist durchgehend in schwarzweiß gehalten, mit Ausnahme der sehr schönen Cover- und Innencover-Illustrationen und der beiliegenden Poster-Karte. Obwohl diese Karte wirklich gut gezeichnet ist, wirkt sie in meinen Augen doch etwas blass und "nüchtern". Die Karten aus dem "Field Guide to Creatures of the Dreamlands" finde ich dagegen ansprechender, weil sie farbenfroher sind. Beim Layout hat sich ebenfalls einiges getan; so wurden die Seiten jetzt durchgehend mit einer nett anzusehenden "Zierleiste" am oberen Rand versehen, und einige Kapitel wurden mit rahmenden Illustrationen bedacht, die Einiges zur Atmosphäre beitragen. Der optische Gesamteindruck kommt dem des deutschen Grundregelwerks von Pegasus nahe, erreicht dessen Qualität aber nicht ganz.

Der Inhalt des Regelbandes ist klar strukturiert und gut auf die Ansprüche des Spielleiters zugeschnitten. Man findet Artikel zur Atmosphäre der Traumlande, zu den verschiedenen Reisemöglichkeiten von der wachen in die schlafende Welt und zu den unterschiedlichen Arten, eine Kampagne dort zu gestalten. Einen großen Teil nimmt der "Gazetteer" ein, der teils recht umfangreiche Informationen zu Städten, Ländern und besonderen Orten in den Traumreichen liefert. Hier findet man auch eine Karte der Unterwelt und zwei (Teil-)Karten der Städte Hlanith und Celephais. Die Stadtpläne könnte man am besten als ‚grobe Übersichtspläne' bezeichnen, mit viel freiem Platz zum Selberausfüllen. Ich hätte gern mehr und detailliertere Karten gesehen, anstatt exakt dieselbe Karte von Celephais drei Mal (!) über den Band verteilt vorzufinden. Um eventuellen späteren Enttäuschungen vorzubeugen: deutsches Material (z.B. aus "Die Froschkönig-Fragmente" von Laurin) wurde natürlich nicht aufgenommen. Das mag zum Teil an urheberrechtlichen Schwierigkeiten und zum Teil an Unkenntnis bzw. Desinteresse liegen. Ein beachtlicher Teil der Hintergrundinformationen ist übrigens in das Kapitel "The Dream-Quest of Randolph Carter" ausgelagert worden. Lovecrafts längste Traumland-Erzählung wird hier zusammengefasst und an den passenden Stellen um nähere Informationen ergänzt, die nicht nur aus der Erzählung selbst entnommen sind, sondern auch aus anderen Quellen. Wer bereit ist, sich durch einen 26-seitigen Essay zu arbeiten, findet hier eine recht umfassende Einführung in Land und Leute. Die wichtigen Stichworte sind im Text hervorgehoben, so dass sich der Artikel auch zum schnellen Nachschlagen eignet. Zusammen mit dem Index am Ende des Bandes erhöht dies die Benutzerfreundlichkeit doch enorm. Was gibt es sonst noch? Natürlich die obligatorischen Beschreibungen und Spielwerte der wichtigen Personen aus den Erzählungen sowie der Kreaturen und Götter, die noch nicht im Grundregelwerk aufgeführt wurden. Hier findet man neben den stabilitätszehrenden Ungeheuern auch Nützliches wie die Werte von etwas exotischeren Reittieren, die in den Traumlanden die Haupttransportmittel darstellen: Yaks, Elefanten, Zebras und Dromedare. Die Liste der Zauber enthält Beschreibungen von mehr als 60 Sprüchen, die nur in den Traumlanden funktionieren. Einige davon findet man auch im deutschen Grundregelwerk. Eine interessante Neuerung ist in meinen Augen die Regelerweiterung zum Erschaffen von Abenteurern (oder Investigators), die in den Traumlanden heimisch sind. Die Methode ist eine leicht vereinfachte Variante der aus dem Grundregelwerk bekannten Charaktererschaffung: In sechs Schritten ist die neue Spielfigur aus der Taufe gehoben. Das Auswürfeln der Attribute läuft ein wenig anders ab, um den Umstand zu berücksichtigen, dass Traumland-Bewohner im Vergleich zu "normalen" Investigatoren weniger gebildet, dafür aber körperlich zäher sind. Selbstverständlich gibt es auch Veränderungen, was die Wahl des Berufs und der Fertigkeiten angeht. Es stehen 22 neue Berufe zur Auswahl. Viele Skills der wachen Welt stehen für Traumlandbewohner nicht zur Verfügung. Sinnigerweise findet man im Anhang auch einen neuen Charakterbogen, der diese Einschränkungen berücksichtigt und der sowohl auf träumende Charaktere aus der wachen Welt als auch auf die "Ureinwohner" zugeschnitten ist. Prinzipiell steht damit einer "gemischten" Kampagne mit Personen aus zwei Welten nichts entgegen. Daneben ist jetzt auch eine reine Fantasykampagne möglich, die angesichts der umfangreichen und detaillierten Weltbeschreibung durchaus ihren Reiz haben könnte. Gerade die sehr einfachen Cthulhu-Regeln würden sich als echte Alternative zu den oft recht komplizierten und überfrachteten Regeln vieler Fantasy-Systeme anbieten.

Wer sich also mit dem Gedanken trägt, von seiner Cthulhu-Kampagne auf Fantasy umzuschwenken, oder wer auf der Suche nach einem Rollenspiel mit einfachen Regeln und einer ungewöhnlichen, orientalisch angehauchten Spielwelt abseits bekannter Fantasy-Klischees ist und zufällig noch irgendeine Version des Cthulhu-Regelwerks bei sich herumliegen hat, sollte einen Blick riskieren. Der Einstieg wird zudem dadurch erleichtert, dass bereits sechs fertige Abenteuer unterschiedlichen Umfangs im Band enthalten sind (die schon in der Urversion dabei waren). Das eine dreht sich lediglich um die erste Reise der Investigatoren von der wachen Welt in die Traumlande, ein anderes eignet sich gut für eine Gruppe aus Traumland-Charakteren, in den übrigen springt die Handlung zwischen den beiden Welten hin und her. Fazit: Ein Ergänzungsband, der angesichts der Masse an interessanten und gut aufbereiteten Informationen sein Geld zweifellos wert ist. Er ist nicht nur für Spielleiter brauchbar, die ihre Cthulhu-Kampagne hin und wieder mit Exkursionen in fantastische Gefilde aufpeppen wollen, sondern auch für diejenigen, die sich dort über einen längeren Zeitraum tummeln wollen.


H.P.Lovecraft´s Dreamlands - 5th Edition
von Chris Williams & Sandy Petersen, und anderen
Chaosium Inc.; 2004
256 Seiten, Hardcover; € 41.90 (bei
Pegasus)