Necronomicon - Geheimnisse des Mythos
Rezension von Tobias Deterding

Necronomicon - welcher Leser, der sich etwas intensiver mit phantastischer Literatur (oder überhaupt phantastischen Medien) beschäftigt hat, könnte mit diesem Begriff nichts verbinden? Auch wer mit Lovecraft und seinen Erzählungen nichts anfangen kann, hat sicher schon einmal von seiner bekanntesten Erfindung gehört. Betrachtet man die Präsenz des Necronomicon in den Medien, von etlichen Romanen und Erzählungen in Lovecrafts Fahrwasser über Machwerke aus Film und Fernsehen (mir ist mindestens ein Film bekannt, der den Titel des Buches übernahm, und in unzähligen anderen wird es erwähnt) bis hin zu den Bildbänden eines gewissen schweizer Künstlers, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass das okkulte Werk inzwischen schon Teil der Popkultur geworden ist. Mehr noch - es ist ein moderner Mythos, der ebenso wie der angebliche UFO-Absturz in Roswell oder die Gerüchte über den noch lebenden Elvis einen Platz in den Herzen von Menschen gefunden hat, die entgegen aller Vernunft GLAUBEN wollen. Dankenswerterweise gehen die Autoren der vorliegenden Publikation auch auf die ungebrochene Beliebtheit der titelgebenden Schwarte bei Verschwörungstheoretikern ein und versäumen dabei nicht die Gelegenheit, sich einmal gehörig selbst auf die Schippe zu nehmen. So findet man bei den Anmerkungen zu den vielen modernen Taschenbuch-Ausgaben der Scharlatane, die das angeblich "echte" Necronomicon gefunden haben wollen, auch die vorliegende Publikation - und zwar komplett mit Angaben zu Cthulhu-Mythos-Zuwachs, Stabilitätsverlust (der mit 0/1 definitiv zu niedrig angesetzt ist) und den "obskuren" Autoren des Machwerks. Es wird auch nicht verschwiegen, dass sich hinter der Fassade des scheinbar harmlosen Rollenspiel-Quellenbuchs ein geheimer Code verbergen soll, der demjenigen, der ihn entschlüsselt, einen wesentlich höheren Mythos-Zuwachs und den schon angemesseneren Verlust von 1W4/1W8 Stabilität beschert. Derartige Gags gefallen und finden sich zum Glück mehrfach im Band wieder. Eine schöne Idee ist z.B. der Szenario-Vorschlag mit dem Teenager, der bei Ebay eine der Taschenbuch-Ausgaben des Necronomicon erwirbt, in die aber durch dunkle Machenschaften ein Seite aus dem "echten" Al Azif eingefügt wurde.

Neben allem Humor liegt hier nichtsdestotrotz wieder einmal ein vorbildlich recherchierter und für Spielleiter überaus nützlicher Quellenband aus dem Hause Pegasus vor. Nicht nur das Buch des Arabers, auch alle anderen wichtigen Mythoswerke werden nach dem gleichen Schema vorgestellt: Eine Kurzgeschichte als Einführung und Einstimmung, Angaben zum Verfasser und zur "Publikationsgeschichte", optische Beschreibung mit Foto, regeltechnische Angaben und Informationen darüber, was mit einem Leser des jeweiligen okkulten Werkes während der Lektüre sonst noch so vor sich geht. Gerade dieser Punkt hat einen besonderen Reiz. Die Hauptwerke des Mythos sind nicht einfach nur alte, verstaubte Folianten, sondern in gewisser Weise "lebendig". Wie nicht anders zu erwarten, ergeben sich daraus recht drastische Auswirkungen auf den körperlichen und geistigen Zustand der Person, die so arglos ist, ein solches Buch zu studieren. Diese Auswirkungen, die je nach Buch unterschiedlich sind, tragen einerseits zur Atmosphäre bei und haben andererseits den Effekt, die Investigatoren in Zukunft etwas weniger sorglos mit gefährlichem Schriftgut umgehen zu lassen. So ist die Idee, ein Szenario oder eine ganze Kampagne nur um ein solches Werk aufzubauen, gar nicht mal abwegig und wird auch im Quellenband durch etliche Szenario-Ideen unterstützt.

Neben den zentralen Werken werden auch die übrigen Mythos-Bücher und eine Auswahl sonstiger okkulter Literatur vorgestellt. Und weil auf Papier gedruckte Worte bei weitem nicht die einzigen Informationsquellen sind, widmet sich ein Kapitel den bisher vernachlässigten Formen der Überlieferung wie Tontafeln, steinernen Inschriften, Musik oder Blindenschrift. Sogar noch interessanter ist das Kapitel über die Methoden, mit denen man Texte auf alt trimmen kann, so dass beim Leser (bzw. den Spielern) der Eindruck entsteht, einen "authentischen" Auszug aus einer alten Foliante vor sich zu haben. Diese Vorschläge sind verständlich erklärt, schnell umzusetzen und ziemlich effektiv. Zudem werden sie stets durch Beispiele veranschaulicht. Dasselbe gilt auch für das Kapitel über Geheimcodes und die Verschlüsselung von Text. Hier findet man nicht nur praktische Anleitungen für Schrifträtsel im Rollenspiel, sondern auch Anmerkungen zur Geschichte der Geheimcodes und zur Verwendung chiffrierten Textes in Büchern.

Um das Ganze nicht zu "textlastig" werden zu lassen, haben sich die Autoren überdies noch die Mühe gemacht, sämtliche Artefakte aufzulisten und zu beschreiben, die in Cthulhu-Mythos-Geschichten und -Abenteuern erwähnt werden. Sowohl die Artefakte als auch sämtliche Schriftstücke sind am Ende des Bandes noch einmal mit den wichtigsten Daten alphabetisch aufgelistet, ebenso wie die Beschreibungen aller erwähnten neuen Zauber. Und weil alle Angaben auch noch bis ins Detail mit Chaosium abgestimmt sind (wodurch es zu keinen Problemen mit der "Continuity" kommt), gibt es eigentlich keinen Grund mehr für den Spielleiter, mit dem Kauf dieses Quellenbandes zu zögern. Der Regelteil ist auf ein Minimum beschränkt; im Vordergrund stehen hier beschreibende Texte und praktische Tipps. Gerade dieser Aspekt macht den Band auch für Spielleiter anderer Systeme interessant. Sowohl für historische als auch für Fantasy-Settings gibt es reichlich Ausbeute an nützlichen Informationen und stimmungsvollen Beschreibungen, besonders, wenn man als Spielleiter seine Kampagne mit etwas mehr Mystery und dunklen Geheimnissen würzen will. Vielleicht ist dies sogar der bisher vielseitigste Cthulhu-Quellenband, der mehr als alle anderen als "universelle Spielhilfe" bezeichnet werden kann. Zu guter letzt sei noch erwähnt, dass passend zum Thema auch eine Menge an optisch schön aufbereiteten Handouts verschiedensten Inhalts über den Band verteilt wurden, die für den Spielleiter sofort einsetzbar sind.

Fazit: Wir wissen nicht, was Ihnen der wahnsinnige Araber Ihres Vertrauens empfiehlt, wir empfehlen Ihnen "Necromonicon - Geheimnisse des Mythos".


Necronomicon - Geheimnisse des Mythos
von Diversen
Pegasus Press; 2004
260 Seiten; € 34,95 (bei
Pegasus)